
Eins hat die Ampel geschafft: Sie hat Deutschland geeint. Keiner, wirklich gar keiner glaubt hierzulande, dass SPD, Grüne und FDP gemeinsam eine gute Regierung gebildet haben. Nicht einmal die SPD glaubt das, wie jetzt ein internes Papier zeigt, über das die Bild berichtet. Die Regierung des Genossen Olaf Scholz habe weder politisch noch kommunikativ den Puls der Zeit getroffen, heißt es darin. Zwar habe es äußere Umstände wie Corona oder den Ukraine-Krieg gegeben. Doch der Vertrauensverlust sei “in weiten Teilen hausgemacht” gewesen.
Nun sind bereits einige Artikel über die Paradoxie geschrieben worden, dass mit dem Vorsitzenden Lars Klingbeil ein Wahlverlierer die Erneuerung der Partei angeht. Doch nimmt man diese Paradoxie erstmal als gegeben hin, dann lässt sich durchaus sagen: Klingbeil geht diese Erneuerung tatsächlich an. Obwohl sich die SPD in der Regierung gehalten hat, hat Klingbeil das Personal weitgehend ausgetauscht und sich von überforderten Ministern wie Karl Lauterbach, Nancy Faeser, Klara Geywitz, Hubertus Heil oder Svenja Schulze getrennt. Als einziger im Amt blieb Verteidigungsminister Boris Pistorius. Der Niedersachse gehörte nicht zur Urbesetzung im Kabinett Scholz. Er war nachgerückt für Christine Lambrecht. Die vielleicht einzige Ministerin der bundesdeutschen Geschichte, deren Rücktrittsgrund pure Peinlichkeit war.
Im zweiten Schritt läutet Klingbeil nun das Schreiben eines neuen Grundsatzprogramms ein. Spannend, dass er das jetzt schon angeht. Er hätte auch damit warten können, bis Bärbel Bas auch offiziell für Saskia Esken als Co-Vorsitzende nachrückt. Klingbeil wolle der Partei eine “neue Vision” verpassen, schreibt die Bild. Auch gehe es darum, die Wähler wieder in einer Sprache anzusprechen, die diese verstehen – statt wie bisher im Berliner Politdeutsch.
Vier sozialdemokratische Kanzler hat es in der bundesdeutschen Geschichte gegeben. Zwei davon sind tot. Von den beiden anderen distanziert sich die Partei nun. Stolz auf die eigene Leistung sieht anders aus. Beispiele anderer, gescheiterter sozialdemokratischen Parteien gibt es in Europa genug. Auch Beispiele der erfolgreichen Neuerfindung. Etwa in Dänemark. Zwischen Odense und Kopenhagen haben die Sozialdemokraten gezeigt, wie das geht: Ideologischen Ballast aus dem Fenster werfen und im Gegenzug die Realität reinlassen.
Etwa in der Migrationsfrage. Die Erzählung, es kämen nur Fachkräfte und dankbare Menschen in Not, hat sich nicht nur in der Heimat von Hans Christian Andersen als Märchen erwiesen. Vor den negativen Folgen zu warnen, war eben doch mehr als rechter Hass und rechte Hetze, wie es Sozialdemokraten in Dänemark behauptet haben – und wie es Sozialdemokraten in Deutschland immer noch behaupten. Wer die Realität nicht hineinlässt, dem schmeißt sie halt irgendwann die Scheiben ein.
Offen ist, wie ernst Klingbeil den Wandel meint. Ebenso, wie entschlossen und erfolgreich er die SPD auf einen neuen Kurs einschwören kann. Falls er das denn will. Oder ob er mit den Worten von der neuen Ansprache der Bürger “auf Augenhöhe” nur meint, den gleichen Mist einmal durch den Mixer einer PR-Agentur jagen zu wollen, die dann neue Schlagwörter, Slogans und Plakatkampagnen ausspuckt. Wobei sich dann an der alten Politik nichts ändern würde.
Inhaltlich hat Klingbeil in den ersten vier Wochen der neuen Regierung angefangen, die SPD auf ein neues Gleis zu setzen. Das Investitionspaket, das er an diesem Mittwoch dem Kabinett Friedrich Merz (CDU) vorlegen will, enthält zum Beispiel verbesserte Möglichkeiten zur Abschreibung, die Wirtschaftsverbände unter der Ampel vergebens gefordert haben. Auch wenn die notorischen Pessimisten dagegenhalten können, dass sich die SPD nicht von etatistischen Vorstellungen löst. Etwa, weil sie weiterhin an der Mietpreisbremse festhält.
Doch der SPD Realismus beizubringen, ist alles andere als eine dankbare Aufgabe. Gerd Schröder wird heute dafür gelobt, dass er mit den Hartz-Reformen der letzte deutsche Bundeskanzler war, der die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft erfolgreich verbessert hat. Nur waren diese Reformen alles andere als ein Siegeszug. In seiner ersten Legislatur packte Schröder erstmal gar nichts an. Außer ideologischen Lieblingsthemen wie den Atomausstieg oder die “Schwulenehe”.
Erst in der zweiten Legislatur wagte sich Rot-Grün an die Reformen. Es folgten schwere Wahlniederlagen, die 2005 letztlich zum Bruch der Koalition führten. Die SPD verfiel danach in ein regelrechtes Trauma. Mit Schröder zu brechen, fiel den Genossen leicht. Nicht nur wegen dessen peinlicher Nähe zu Wladimir Putin. Die Einführung des Bürgergelds feierte die Regierung Scholz als Überwindung dieses Traumas. Doch erst dessen katastrophales Scheitern in nur wenigen Monaten zeigte, wie gut die Reformen Schröders davor waren.
Wenn die SPD sich nun unter Klingbeil und Bas ein neues Grundsatzprogramm gibt, muss sie heikle Themen angehen. Etwa das Bürgergeld. Die Partei wird dabei immer etatistisch bleiben. Das liegt in ihrer DNA und hat als Teil des demokratischen Angebots auch seine Berechtigung. Doch die Partei darf solche Projekte wie das Bürgergeld nicht durch die ideologische Brille sehen. Denn sonst kommt sie zu Trugschlüssen wie Hubertus Heil, der meinte, man müsse Langzeitarbeitslosen nur jeglichen Druck nehmen – dann fänden sie schon den perfekten Job. Durch die Brille der Realität betrachtet sieht man ein, dass 563 Euro im Monat und eine gratis Wohnung manchen genügt und sie einfach morgens im Bett bleiben, weil es darin so bequem ist – und nicht weil der Arbeitsmarkt an ihrer Integration scheitere.
Einwanderung. Bürgergeld. Die politische Vollversorgung nicht-staatlicher Organisationen mit staatlichem Geld. Links-ideologische Projekte in aller Welt mit deutschem Geld bezahlt. Der Wahn, Unternehmen deren Handeln bis ins letzte Detail per staatlichem Dekret diktieren zu können. All das hat die SPD entfremdet. Die Partei dem Bürger. Aber auch die Funktionäre der Partei ihrer immer schmaler werdenden Basis.
Wenn Klingbeil nun kritisiert, dass die Partei künftig “auf Augenhöhe” kommunizieren müsse, ahnt er das Nebelfeld, in dem das Problem liegt. Doch er stochert an diesem Problem vorbei. Die Funktionäre müssen nicht bessere Wörter finden, um der Basis in und außerhalb der Partei Einwanderung, Bürgergeld, Bürokratiewahn oder staatliche Verschwendungssucht so zu erklären, damit die Dummerchen das auch verstehen. Die Funktionäre müssen sich von der bisherigen Politik zu Einwanderung, Bürgergeld, Bürokratiewahn oder staatlicher Verschwendungssucht verabschieden – weil die Bürger das alles für falsch halten und dabei recht haben. Nicht die verquere Sprache der SPD muss sich ändern. Sondern das Denken, das diese verquere Sprache hervorbringt. Ob der Partei dieser Wandel gelingen wird, ist mehr als zweifelhaft – aber einen Versuch ist es allemal wert.