England hat eine neue Partei und Deutschlands alte Probleme

vor etwa 4 Stunden

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Bildquelle: Tichys Einblick

Erinnert sich noch wer an Jeremy Corbyn? Der Linksaußen der britischen Labour Party – entfernt vergleichbar mit unserer SPD – führte seine Partei als Vorsitzender und Spitzenkandidat 2019 in eine geradezu peinlich deutliche Niederlage.

Ein Jahr später wurde er als Vorsitzender abgewählt und wenig später aus der Partei ausgeschlossen. Jetzt meldet er sich mit einem ordentlichen Knall auf der politischen Bühne zurück.

Der 76-Jährige wird nach übereinstimmenden Berichten britischer Medien wohl eine neue, linksextreme Partei gründen. Als Name ist „Real Change“ im Gespräch, übersetzt heißt das etwa „Wahrer Wechsel“.

Die politische Landschaft im Königreich zersplittert damit ganz ähnlich wie die in Deutschland.

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Premierminister Keir Starmer von der Labour Party ist so etwas wie der britische Friedrich Merz, nur eben spiegelverkehrt, das heißt von links.

Vor einem Jahr fuhr Starmer für seine Sozialdemokraten einen fulminanten Wahlsieg ein. Nach Jahren des politischen Siechtums unter der zunehmend chaotisch agierenden konservativen Partei, den Tories, erhofften sich die Briten von ihm Seriosität und Stabilität in der Regierung.

Falsch gehofft.

Von Anfang an brach Starmer ein zentrales Wahlversprechen nach dem anderen. Vor allem die Landwirte auf der Insel fühlten sich nachvollziehbarerweise blank betrogen. Starmer hatte ihnen mehr Unterstützung, weniger Bürokratie und steuerliche Entlastung versprochen. Stattdessen ließ er plötzlich eine Erbschaftssteuer in Höhe von 20 Prozent auf das Vermögen von aktiv produzierenden Bauernhöfen erheben.

Deren Vermögen liegt aber nicht auf der Bank, sondern ist angelegt: im Grund und Boden, im Vieh, in den Stallungen und in teuren Geräten wie modernen Melkmaschinen, Mähdreschern und Traktoren. Bauern, die von ihren Eltern den Hof erben und ihn weiterführen wollen, haben jetzt oft keine andere Möglichkeit, als große Teile des Geschäfts zu verkaufen – nur, um die neue Erbschaftssteuer zahlen zu können.

Die Folge: Hunderttausende Bauern legten bei Massenprotesten London lahm.

Nach parteiinternen Scharmützeln warf Starmers erfahrene Stabschefin Sue Gray, die zentrale Figur im Regierungssitz in der Downing Street, schon nach wenigen Monaten das Handtuch. Nachfolger Morgan McSweeney ist zwar Starmers engster Vertrauter und war sein Wahlkampfstratege, auch unter ihm wurden aber munter weitere zentrale Aussagen aus dem Wahlkampf zurückgenommen.

Starmer hatte die Regierung seines konservativen Vorgängers Richi Sunak immer wieder dafür kritisiert, dass das Vereinigte Königreich trotz Austritt aus der EU mit einer Rekordzahl von illegalen Einwanderern zu kämpfen hat. Doch frisch gewählt, stoppte er die einzige konkrete Maßnahme, die Sunak gegen den Flüchtlingsstrom überhaupt zustande gebracht hatte: ein Abkommen mit Ruanda zur Einrichtung von Asyl-Zentren.

Besonders empört waren die Briten über Enthüllungen zum Pädophilen-Skandal in Rotherham. In der mittelenglischen Stadt waren zwischen 1997 und 2014 etwa 1.400 Kinder und Jugendliche systematisch missbraucht und sexuell versklavt worden. Die Täter waren weit überwiegend Männer pakistanischer Herkunft. Ein Untersuchungsbericht enthüllte, dass die Behörden sich bei den Ermittlungen systematisch zurückgehalten hatten, um Vorwürfe von Rassismus zu vermeiden und um die wichtige Gruppe der Wähler mit pakistanischen Wurzeln nicht zu verprellen. Mitarbeiter, die sich an die Stillhalte-Anweisungen nicht halten wollten, wurden suspendiert oder entlassen.

Der Vorsitzende der zuständigen Staatsanwaltschaft damals hieß: Keir Starmer.

Nachdem er Premierminister geworden war, ließ er seine Kinderschutz-Ministerin Jess Philipps einen Antrag zur Einsetzung einer nationalen Untersuchungskommission ablehnen. Erst nach einem öffentlichen Aufschrei stimmte Starmer dann letztlich doch einer Untersuchung zu – die aber seine eigene Rolle aussparen soll.

Auch innerparteilich segelt Starmer in schwerer See. Weil ihm die Staatsverschuldung davongaloppiert (das kommt uns auch irgendwie bekannt vor), ließ er seine Finanzministerin Rachel Reeves Kürzungen bei den Sozialausgaben in Höhe von umgerechnet etwa sechs Milliarden Euro vorbereiten. Doch da verweigerten fast 120 Dutzend Labour-Abgeordnete vom linken Flügel die Gefolgschaft. Das Gesetz drohte im Parlament zu scheitern, und Starmer ruderte eilig zurück. Jetzt ist von den Kürzungsplänen so gut wie nichts mehr übrig, und das gigantische Loch in der Staatskasse wächst weiter.

Starmers Autorität ist stark angekratzt. Als Bauernopfer hat er offenbar Finanzministerin Reeves auserkoren. In einer Fragestunde des Parlaments vermied es der Premierminister auch auf mehrfache Nachfragen hin, seine frühere Jobgarantie für die Schatzkanzlerin zu wiederholen.

Mitten in der Sitzung brach Reeves dann in Tränen aus. Später erklärte sie das mit „privaten Angelegenheiten“, was aber selbst Parteifreunde ihr nicht abnahmen und was in Großbritannien – wo man Gefühle in der Öffentlichkeit nicht zeigt – für erhebliche Irritationen sorgte.

Angesichts immer neuer innenpolitischer Niederlagen flüchtet sich Starmer in die Außenpolitik (auch das kennt man von deutschen Regierungschefs). Vor allem im Ukraine-Krieg versucht der Labour-Vorsitzende, sich als wichtigster Verbündeter Kiews zu inszenieren. Doch auch das geht inzwischen schief.

In einer Rede zur Zuwanderung erklärte der Premierminister im Mai in einer etwas überraschenden politischen Kehrtwende, Großbritannien drohe zu einer „Insel der Fremden“ zu werden. Dafür fiel der linke Flügel seiner Partei über ihn her. Erneut ruderte Starmer sofort zurück (was wieder sehr an Friedrich Merz erinnert). Als Entschuldigung brachte er vor, er sei abgelenkt gewesen von den außenpolitischen Ereignissen und habe die Rede vorher nicht gründlich genug gelesen.

Auch so kann man die eigene Autorität demontieren.

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Den Todesstoß könnte Starmer jetzt sein alter Feind Jeremy Corbyn versetzen.

Der war im Jahr 2015 ähnlich überraschend Parteivorsitzender von Labour geworden wie einst Saskia Esken bei der SPD. Nach einer Erdrutsch-Niederlage bei den Parlamentswahlen waren die britischen Sozialdemokraten so verzweifelt, dass sie wohl dachten, man könne es ja auch einmal mit einem Linksextremisten an der Spitze versuchen. Schlimmer könnte es ja kaum kommen.

Es kam schlimmer.

Als Oppositionsführer lieferte Corbyn eine derart erbärmliche Leistung ab, dass Labour die Wahl im Jahr 2019 mit Pauken und Trompeten verlor. Schon wieder. Das und Corbyns ständige antisemitische Ausfälle führten dazu, dass er 2020 erst abgewählt – und noch im selben Jahr sogar aus der Partei geworfen wurde. Sein Nachfolger: Keir Starmer.

Jetzt sieht Corbyn wie weiland Oskar Lafontaine offenbar den Moment gekommen, sich an seiner alten Partei zu rächen. Zusammen mit der bisherigen Labour-Abgeordneten Zarah Sultana gründet er offenbar eine neue und eindeutig linksextreme Partei. Auf der Plattform X schrieb Frau Sultana: „Jeremy und ich werden gemeinsam mit anderen unabhängigen Abgeordneten, Aktivisten und Aktivistinnen im ganzen Land die Gründung einer neuen Partei leiten.“

Die Abspaltung wird absehbar all jene Linken einzusammeln versuchen, die mit Starmer und seinem Kurs unzufrieden sind. Nach einer aktuellen Umfrage könnte eine neue Linkspartei zehn Prozent der Stimmen gewinnen. Das wäre ein herber Schlag für Labour, das mit 20 Prozent schon jetzt nur noch gleichauf mit den Konservativen liegt.

Inhaltlich wird die Sache recht eindeutig: Die nächste Wahl werde eine Entscheidung zwischen „Sozialismus oder Barbarei“ sein, erklärt Frau Sultana. Sie hat auch bereits mehrfach geäußert, Israel begehe im Gaza-Streifen einen „Völkermord“. Im Internet zeigte sie sich als Sympathisantin der militanten „Palestine Action“ und schrieb: „Wir sind alle Palestine Action.“ Bei einer Abstimmung im Unterhaus am Mittwochabend stimmte sie dagegen, die gewalttätige Gruppe nach den britischen Terrorgesetzen zu verbieten.

Es ist also klar, wohin die Reise geht.

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Labour verliert nach links. Die Tories haben ihren konservativen Markenkern aufgegeben und verlieren seitdem nach rechts. Beides kennt man auch aus Deutschland.

„Reform UK“ gewinnt in den Umfragen immer mehr. Inzwischen ist es möglich, dass die Partei, die einst für den Brexit gegründet worden war, die nächste Wahl zum britischen Unterhaus gewinnt.

Der Premierminister hieße dann Nigel Farage.

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