
Vor langer Zeit, als sich die Deutschen vom Schock der Niederlage erholt hatten und nach neuen Gewissheiten Ausschau hielten, wurde ihnen der Verfassungspatriotismus als Stichwort zugerufen. Ein echtes Professorenstichwort, vage, abstrakt und farblos. Es stammt von Dolf Sternberger, wurde von Jürgen Habermas aufgegriffen und popularisiert. Zwei Generationen lang hat es den Deutschen als Ausrede gedient, doch damit ist nun Schluss. Nachdem ihnen der Patriotismus ausgetrieben worden war, folgt jetzt der Glaube an die Verfassung.
Vom Haushaltsbewilligungsrecht, dem einstmals sogenannten Königsrecht des Parlaments, sind nur noch Trümmer übrig. Da sie im Umgang mit den Staatsfinanzen freie Hand haben wollten, haben die Volksvertreter die Vorschrift, Ausgaben und Einnahmen zur Deckung zu bringen, kurzerhand gestrichen – ersetzt durch einen Rattenschwanz von Ausnahmen, Vorbehalten und Sondertatbeständen, die niemand überblickt und kontrolliert, sie selbst natürlich auch nicht. Mit dem Beschluss, die Schuldenbremse zu lockern, hat ein abgewählter Bundestag auf Geheiß einer geschäftsführenden Bundesregierung nun endgültig die Segel gestrichen.
Immerhin hatte sich das Parlament noch einmal zu Wort gemeldet. Wenn die Regierung die Grundrechte aufs Korn nimmt, pflegt es zu schweigen. Zwar macht das Grundgesetz mit dem Schutz von Menschen- und Bürgerrechten Ernst: Es hat verboten, ihren „Wesenskern“ anzutasten, Eingriffe nur per Gesetz erlaubt und überdies verlangt, „unter Angabe des Artikels“ das Grundrecht zu benennen, das eingeschränkt oder aufgehoben werden soll. Aber was vermag das alles gegen eine entschlossene Regierung, gegen ein folgsames Parlament und gegen eine willige Justiz? Wenn es verboten ist, Grundrechte per Gesetz auch nur anzutasten, dann machen wir das eben per Verordnung – wie zu Corona-Zeiten tatsächlich geschehen. Not ist nötig, sagen sich Machthaber, denn nur in Notzeiten können wir machen, was wir wollen.
Das Virus lieferte den Vorwand; den haben sie genutzt. Umgangen oder missachtet, eingeschränkt oder ausgesetzt worden sind damals das Gleichheitsgebot, die Glaubens- und die Bewegungsfreiheit, Versammlungs-, Vereins-, Berufs- und Gewerbefreiheiten (einschließlich des Rechts auf sexuelle Dienstleistungen, Verfassungsrichter sind genaue Leute) und was dergleichen Freiheiten mehr sind – im Grunde also alles, was im bürgerlichen Alltag zählt. Auf dem Verordnungswege, wie gesagt, und abgesegnet von einem Gericht, das ursprünglich dazu geschaffen worden war, den Bürger gegen den Übermut einer Regierung zu schützen, die sich verantwortlich nennt, aber nicht ist. Vor wem denn auch verantworten, wenn es das Volk, die Quelle aller Staatsgewalt, wie es im Grundgesetz heißt, nicht mehr gibt? Die Spahns und Lauterbachs sind nie zur Rechenschaft gezogen worden, genauso wenig wie Frau Merkel.
Ja, die Verfassung gibt es noch, aber sie bedeutet nichts mehr. Wenn es ernst wird, kann sich keiner von uns auf sie berufen. Sie ist ersetzt worden durch Gremien und Verfahren, von denen das Grundgesetz nichts weiß: durch Koalitionsrunden und Koalitionsausschüsse, die Koalitionspapiere und Koalitionsbeschlüsse produzieren, die nach Recht und Gesetz nicht lang fragen. Schamlos gegen die Wähler und rücksichtslos gegen die Verfassung, kündigen sie ihren Angriff auf unsere bürgerlichen Freiheitsrechte in der Gewissheit an, dass der Bürger ohnehin nichts mehr zu sagen hat. Sie reden von „unserer Demokratie“, als wäre sie ihr Eigentum; und jeder, der mitreden will, ihr Gegner.
Nachdem sie den Bürger entmündigt haben, gibt es nur noch eine Größe, die ihnen gefährlich werden könnte – die Opposition, die Regierung von morgen, wie sie in England heißt. Die kleinzukriegen ist nicht leicht, weil das Grundgesetz einem Parteiverbot gewaltige Hindernisse in den Weg legt. Doch ein Verbot ist gar nicht nötig, da es ja andere, elegantere Mittel gibt, mit der Opposition fertig zu werden. Man muss ihre Führer nicht einmal einlochen, wie Erdogan das tut, oder umbringen, wie das in Russland üblich ist; es reicht, ihnen das passive Wahlrecht zu entziehen, so wie Macron das mit Marine Le Pen gemacht hat (oder machen ließ) – wobei passiv in diesem Fall ein glatter Euphemismus ist. Denn indem er seiner schärfsten Rivalin das Recht, gewählt zu werden, nimmt, nimmt er ja auch Millionen von Bürgern das Recht, sie zu wählen. Und eben darauf kommt es ihm doch an.
Der Angriff auf das Recht, gewählt zu werden, ist nur der erste Schritt. Der zweite, der das Wahlrecht in seiner aktiven Form sabotiert, das Bürgerrecht auf allgemeine, freie, gleiche und geheime Wahlen leerlaufen lässt, ergibt sich früher oder später dann von selbst. Denn wozu wählen, wenn man keine Wahl mehr hat? Geht es nach dem Willen der beiden immer noch sogenannten Volksparteien, soll das passive Wahlrecht verlieren, wer sich der Volksverhetzung schuldig macht. Und schuldig ist jeder, der gegen Einzelne oder Gruppen wegen ihrer Zugehörigkeit zu nationalen, rassischen, religiösen oder sonstigen Minderheiten etwas Böses vorbringt, „zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert“ – ein Blankoscheck, der seinerseits zu Willkür und Gewalt einlädt, da er aus lauter unbestimmten Rechtsbegriffen besteht.
Ich würde gern genauer wissen, was unter diesen Kautschukwörtern zu verstehen ist. Auch ich bin gegen Einzelne und ganze Gruppen, die zum Hass, ja zur Vernichtung von Andersdenkenden, Andersredenden und Andersglaubenden aufrufen. Und nicht nur aufrufen, sondern auch so handeln, weil sie den frommen Schriften folgen, die der Ungleichheit das Wort reden, die einen Mann für wertvoller halten als eine Frau, die dazu einladen, Minderheiten zu bekämpfen und zu unterdrücken, die es für verdienstvoll halten, Juden und Christen die Hälse abzuschneiden, und was dergleichen fromme Wünsche mehr sind.
Ich glaube immer noch, dass Deutschland gut daran getan hätte, auf die Bereicherung durch Kulturen zu verzichten, die solche Tugenden predigen und praktizieren. Und gut daran täte, das Versäumte wo irgend möglich nachzuholen. Wie viele andere bin ich nicht dazu bereit, junge Leute, die ihre erste Straftat schon beim Überschreiten der deutschen Grenze begangen haben, als Mitbürger zu begrüßen. Im Gegenteil plädiere ich dafür, sie in ihre Heimat abzuschieben oder zurückzuführen, wie immer man das nennen will. Also dafür, immer dann, wenn sich der Einwanderer dem Einleben widersetzt, Migration mit Remigration zu beantworten.
Nun warte ich auf Antwort – ob sie kommt, von wem sie kommt und wie sie aussieht. Oder ob sich James David Vance geirrt hatte, als er neulich den Verdacht aussprach, dass es in Deutschland mit der Meinungsfreiheit nicht weit her sei.
Dr. Konrad Adam ist Journalist, Publizist und ehemaliger Politiker der AfD. Er war Feuilletonredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Chefkorrespondent und Kolumnist der Tageszeitung Die Welt in Berlin.