
Es war einmal vor langer Zeit in einem wundersamen Land, da lebte ein fabelhaftes Märchenvolk. Ihr Königreich erstreckte sich von den mächtigen Bergen des Südens bis hin zu den Stränden der See im hohen Norden und lag in der Mitte eines reichen Kontinents. Die Deutschen, wie sie sich die Eingeborenen selbst nannten, erzählten sich gerne Geschichten: Mal waren es schaurige, dann wieder zauberhafte, nie aber durften sie mit den Mühen der echten Welt zu tun haben. Denn das Völkchen war einst ein fleißiges, und die Märchen gaben ihrem schweißtreibenden Tun einen Sinn.
Eines Tages begab es sich, dass die Menschen begannen, die unterschiedlichsten Geschichten zur gleichen Zeit zu erzählen. So dachten die Deutschen, dass sie zugleich von den engsten Freunden und den ärgsten Feinden umgeben waren; sowohl arm als auch wohlhabend, himmelschreiend ungerecht und doch jedwedem Todeskampfe wert. Um in dieser Lage einen neuen Anführer zu bestimmen, riefen die Höflinge und Gelehrten, Hohepriester in roten Roben und Kinder der reichsten Familien, einen Wettstreit aus. Ein Wettsingen sollte den größten Strategen des Landes hervorbringen, der die Wirtschaft sowie die innere und äußere Sicherheit in Einklang bringen würde. Nach einem Gottesdienst zu Ehren der Heiligen Angela wählten die Ältesten den Riesen Friedrich zum Nachfolger eines namenlosen Krämers, dessen Regentschaft gescheitert war. Während des Wettstreites trällerte Chormeister Friedrich allerhand Lieder, eine Minne an die Produktivität beispielsweise, eine Warnung vor dem Schuldenwucher, allen voran aber die Ballade vom Taurus.
Doch bereits am ersten Tage nach der Krönung sang der Sieger ein anderes Lied, und sein handverlesenes Kammerorchester aus Ministern und Beratern wichen ihrerseits von der Partitur der „Außenpolitik aus einem Guss“ ab. Das strategische Konzert machte sich auf, zu einer Kakophonie zu werden. Da musste der König und Chormeister feststellen, dass der Hof sich nicht auf eine Weise führen ließ, wie er es, dem Stande der Patrizier entstammend, gewohnt war.
Bundeskanzler Friedrich Merz spricht mit Soldaten der Bundeswehr.
Die Gelehrten und Sadduzäer in den Tempeln der Hauptstadt erzählten, Babylon gleich, immer noch widersprüchliche Geschichten und redeten in fremden Sprachen wild durcheinander. Als Reisekönig zog Friedrich durch die Pfalzen des Kontinents, um mit den Herrschern fremder Länder Hof zu halten. In seiner Abwesenheit ging so mancher im Kabinett seine eigenen Wege. Johann aus dem Norden widersprach seinem Herrn öffentlich und stetig in der Politik bezüglich des Morgenlandes. Markus der Löwe wiederum wagte den Trunk mit Usurpatoren und dem einfachen Volk in der verbotenen Stadt. „Halt, Meister! Nicht so geeilt! Nicht jeder eure Meinung teilt“, polterte er. „Des Ritters Lied und Weise, sie fand ich neu, doch nicht verwirrt.“
Die größte Sorge allerdings, die plagte den neuen König anderswo. In der von umherspukenden Narrativen geplagten Kapitale hatte er sich von Katharina der Grünen eine große Summe Gulden borgen müssen, um sich der Unterstützung des Hauses Klingbeil zu versichern. Nun erinnerten seine Zahlmeister an sein altes Versprechen, den Taurus zu befreien. Dieser war ein zerstörerisches Fabelwesen ähnlich einem Stier, der nur von den Deutschen gezähmt werden und einem unterdrückten Volk in den Grenzlanden nahe des bösen Mordors zur Hilfe eilen konnte. Doch die gar abholden Lords des Hauses Klingbeil fürchteten den Zorn Mordors, und so fand sich Friedrich in den Fängen jener Zwänge gefangen, die zu zerschlagen er angetreten war. Und die Moral von der Geschicht’?
Außenminister Johann Wadephul (CDU) und sein ukrainischer Amtskollege Andrij Sybiha trafen sich in Kiew.
Zum Glück handelt es sich bei den zuvor verfassten Zeilen selbstverständlich um eine fantasievolle Fabel, die– so wie die deutsche Außen- und Verteidigungspolitik – zunächst einmal wenig bis nichts mit der Realität gemein hat. Und doch sind auch unser sehr echtes Land und unsere alles andere als märchenhafte Politik geplagt von der Abwesenheit des strategischen Denkens, von Berliner Meisterstrategen ganz zu schweigen.
Das mag einerseits daran liegen, dass unsere Wahlkämpfe in der repräsentativen Demokratie tatsächlich eher ablaufen wie ein Sängerwettstreit: Wir bestimmen die führenden Köpfe dieser Nation anhand der Leistungsfähigkeit ihrer Kehle, weniger über die der nächsthöheren Etage. Die schönsten Lieder, angereichert mit ein wenig natürlicher Sympathie und der richtigen Kostümierung zur rechten Zeit, bestimmen über die Fraktionsstärke im Bundestag. Im Grunde also mehr Eurovision Song Contest als Wagners Nürnberg. Die Gemeinsamkeit liegt darin, dass das eigentliche Handwerk, gewissermaßen die zentrale Kunstform des Politikers, das performative Vortragen ist – und eben nicht die strategische Überlegung.
Kein System ist perfekt, und einige Jahre lang hat diese Herangehensweise scheinbar funktioniert. Geopolitische Erwägungen waren für das deutsche Modell nicht besonders prioritär. Die existenzielle Wechselbeziehung von Krieg und Frieden, von der die Menschheit seit ihren frühesten Tagen begleitet wird, schien vergessen. Zwei Generationen des relativen Friedens in einem vergleichsweise kleinen und privilegierten Eckchen der Welt haben ausgereicht, um geostrategisches Denken als Mindestanforderung im politischen System konsequent rauszuzüchten. Nun, da Verteidigung wieder eine Kategorie der Politik wird, stürzt sich die entsprechende Klientel auf das Thema wie Fliegen auf eine gammelige Ananas in der Sonne. In der Logik ihrer kleinen Welt begnügen sie sich allerdings mit Schlagworten, ein paar Fotos mit Soldaten hier, eine knackige Forderung zur Sicherheit da. Wie ein Gewand, das man für einen Rosenmontag anzieht, um es kurz darauf zurück in den Schrank zu hängen: Wer weiß schon, welches politische Thema demnächst trendet?