
In einer zweiseitigen Pressemitteilung gab das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) am 2. Mai bekannt, die Partei Alternative für Deutschland (AfD) sei eine „gesichert rechtsextremistische Bestrebung“. Inzwischen hat das BfV im Zuge einer juristischen Auseinandersetzung eine Stillhalteerklärung abgegeben: Es wird die Behauptung vorerst nicht wiederholen, aber sie bleibt bestehen.
Die Begründung für die Einstufung der AfD als „gesichert rechtsextrem“ lautet: Das „ethnisch-abstammungsmäßige Volksverständnis“ der AfD werte andere Bevölkerungsgruppen ab, insbesondere Migranten und Muslime, und verletze diese „in ihrer Menschenwürde“. Aber was versteht man im Deutschen unter dem Wort „Volk“ und konkret dem „deutschen Volk“?
Im aktuellen Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) werden unter „Volk“ fünf Bedeutungen aufgeführt:
Zentral für die Argumentation des BfV sind die Bedeutungen 1 und 2, die einen ethnisch-kulturellen bzw. politischen Volksbegriff beinhalten. In welchem Verhältnis stehen beide?
Wortgeschichtlich ist der politische Volksbegriff (Volk = „Staatsvolk“) jünger als der ethnisch-kulturelle: Er bildete sich erst im 19. Jahrhundert aus, im Zuge der deutschen Nationalbewegung, die schließlich 1871 zur Gründung des Deutschen Reiches führte, dessen Staatsziel laut Verfassung der Schutz des Reichsgebietes war sowie die „Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes“. Die Großschreibung des Adjektivs in „Deutsches Volk“ zeigt an, dass es sich hier um einen eigenen Rechtsbegriff handelt. Dieses „Deutsche Volk“ wird in der Präambel der Weimarer Verfassung (1919) und des Grundgesetzes (1949) ausdrücklich als Verfassungsgeber und Souverän genannt.
Das Reichsoberhaupt führte 1871 den Titel „Deutscher Kaiser“ und nicht „Kaiser der Deutschen“, weil es auch außerhalb des Reiches ethnisch-kulturelle Deutsche gab: In Osteuropa (zum Beispiel Wolgadeutsche), auf dem Balkan (zum Beispiel Siebenbürger Deutsche) und im Habsburgerreich, wo sich die Bewohner des heutigen Österreich als „Deutsche“ bezeichneten, um sich von anderen Völkern der Monarchie (Tschechen, Kroaten, Italiener usw.), die ja politisch auch „Österreicher“ waren, zu unterscheiden.
Die Gleichung „deutscher Volkszugehöriger = deutscher Staatsbürger“ stimmt auch heute nicht: Deutschland hat vier anerkannte Volks- bzw. nationale Minderheiten (Friesen, Dänen, Sorben, Sinti und Roma), die deutsche Staatsbürger sind, sich aber ethnisch-kulturell nicht als „Deutsche“ verstehen – ebensowenig wie viele der 2,9 Millionen (Stand: 2023) Doppelstaatler in Deutschland. Im Grundgesetz (Art. 116) wird übrigens der Begriff „Deutscher“ sowohl politisch definiert („wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt“) als auch ethnisch-kulturell („Flüchtlinge und Vertriebene deutscher Volkszugehörigkeit“); zwischen 1950 und 2022 kamen fast fünf Millionen dieser Volkszugehörigen als „(Spät)aussiedler“ in die Bundesrepublik und wurden hier deutsche Staatsbürger.
Über das Volk der Deutschen hat Goethe sich im Laufe seines langen Lebens (1749-1832) vielmals geäußert; zum Beispiel sagte er gegenüber dem Historiker Luden (13. Dezember 1813):
„Ich habe oft einen bittern Schmerz empfunden bei dem Gedanken an das deutsche Volk, das so achtbar im einzelnen und so miserabel im Ganzen ist. Eine Vergleichung des deutschen Volkes mit anderen Völkern erregt uns [Goethe, Anm. d. V.] peinliche Gefühle …“
Wie würde das Bundesamt für Verfassungsschutz eine solche Äußerung heute bewerten, wenn sie das syrische oder afghanische Volk beträfe? Vermutlich als „migranten- und muslimfeindlich“. Dann wäre also Goethe „deutschenfeindlich“ gewesen.
Mit dem „deutschen Volk“ meinte Goethe nicht ein deutsches Staatsvolk (das gab es damals noch nicht), sondern Menschen deutscher Sprache, Herkunft und Kultur (entsprechend der Bedeutung 1 des DWDS), und dieser ethnisch-kulturelle Volksbegriff ist auch heute noch sprachüblich – neben dem „modernen“ politischen Volksbegriff. Beide Begriffe schließen einander nicht aus: Die Mehrheit des deutschen Staatsvolkes bilden die Herkunftsdeutschen.
Politische Bedeutung haben diese Volksbegriffe aber nicht mehr: Der letzte Bundeskanzler, der noch öffentlich „Wir Deutsche“ sagte, war Gerhard Schröder (1998-2005). Seitdem fehlen in Regierungserklärungen und den Programmen der traditionellen Parteien die Bezeichnungen „Deutsche“ und „deutsches Volk“ – gleichgültig, ob in ethnisch-kultureller Bedeutung oder nicht.
Die Einstufung der AfD als „gesichert rechtsextremistisch“ kommt nicht unerwartet. Bereits 2023 sagte Thomas Haldenwang, damals Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, anlässlich des damaligen AfD-Parteitages (wörtliche Transkription):
„Äh, es ist äh aktuell eine Entwicklung in Deutschland, wo wir feststellen, dass eben extremistische Kräfte durchaus einen-äh Zulauf gewinnen. Wir haben es auch darstellen können eben in unserem aktuellen Verfassungsschutzbericht, den ich-äh vor einigen Wochen mit Frau Ministerin Faeser vorgestellt habe. Wir sehen eben auch äh steigende Umfragewerte für äh Parteien am äh äußersten rechten Rand und-äh das ist sicherlich Anlass, dann auch vermehrt über verfassungsfeindliche Bestrebungen innerhalb solcher Parteien äh zu berichten, damit die Bürger, die möglicherweise sich nicht so detailscharf informieren, eben auch über diese Aspekte Informationen erhalten.“
Die Transkription zeigt anschaulich, dass die Deutschkompetenz im BfV nur mäßig ist; es sollte deshalb auf Erörterungen über die Bedeutung des Ausdrucks „Deutsches Volk“ verzichten.
Fazit: Aus Anlass der Pressemitteilung des BfV zur Einstufung der AfD als „gesichert rechtsextremistisch“ schrieb Roland Tichy: „Im Umgang mit der AfD macht sich dieser Staat lächerlich.“ Das gilt nicht nur politisch, sondern auch sprachlich.