
Am Wahlabend um kurz nach 18 Uhr, als der Balken der AfD noch unter 20 Prozent anzeigte, wirkten die Gesichter der Parteispitzen eher verkrampft. Ist das jetzt ein gutes Ergebnis oder nicht, rätselte der ein oder andere Politiker sowie die AfD-Wählerschaft. Angesichts der grausamen Terrorakte in Aschaffenburg oder München sowie der internationalen Unterstützung durch Elon Musk und Viktor Orbán lagen die Erwartungen bei vielen doch höher. Einen Tag später, mit Bekanntwerden des offiziellen Ergebnisses, wirkten die Gemüter zumindest wieder gelöster. Mit 20,8 Prozent konnte die Partei ihr Ergebnis im Vergleich zu 2021 mehr als verdoppeln. AfD-Chefin Alice Weidel sprach am Montag von einem „wahnsinnigen Erfolg“ und verkündete: „Wir sind Volkspartei“.
Gerade im Osten erzielte die Partei Rekordergebnisse. In Thüringen landete man bei spektakulären 38,6 Prozent, in Sachsen kam die Partei auf 37,3 Prozent, in Sachsen-Anhalt wählten 37,1 Prozent der Bevölkerung die AfD, in Brandenburg waren es 32,5 Prozent und in Mecklenburg-Vorpommern 35 Prozent. In diesen fünf Bundesländern gibt es 48 Wahlkreise, von denen nur drei (Leipzig II, Erfurt, Potsdam) nicht an die AfD gingen. Auch die Zweitstimmen in den neuen Bundesländern sprechen eine eindeutige Sprache.
Die Stärke im Osten ist bekannt. Doch nun vollzieht sich auch im Westen ein Wandel, erste Achtungserfolge werden erzielt. Plötzlich erhält die AfD in früheren SPD-Hochburgen wie Gelsenkirchen und Kaiserslautern die meisten Zweitstimmen, auch wenn es für die Direktmandate (noch) nicht reicht. In vielen ländlichen Gemeinden oder in klassischen Industriestädten wie etwa Ludwigshafen stimmen die meisten Wähler für die AfD. Im Süden und Südwesten des Landes ist die AfD mittlerweile gefestigt die zweitstärkste Kraft und will langfristig die Union und die SPD ablösen.
„Unser klares Ziel ist es, die rote Vorherrschaft in Arbeiterstädten mehr und mehr zu durchbrechen“, erklärt der rheinland-pfälzische AfD-Politiker Sebastian Münzenmaier gegenüber NIUS. Am Sonntag verfehlte er das Direktmandat in Kaiserslautern nur knapp. „Die SPD macht schon lange keine Politik mehr für Arbeiter, sondern für Migranten, Arbeitslose und sich selbst als wichtig empfindende, laute Minderheiten“, meint der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der AfD. Wer sich mehr „für die Einführung von Gender-Klos“ interessiere als für „den bezahlbaren Wocheneinkauf oder günstige Tankpreise“, müsse sich über schlechte Wahlergebnisse nicht wundern. Ob in der Pfalz oder im Ruhrgebiet: „Die neue Arbeiterpartei ist die AfD“, meint auch Münzenmaier.
Noch dominieren jedoch größtenteils die ehemaligen Volksparteien im Westen das Geschehen – insbesondere durch ihre demografische Macht. Zwei Drittel der Rentner wählen die CDU/CSU oder die Sozialdemokraten. Umso jünger der Wähler, desto eher entscheidet er sich für die AfD. Der durchschnittliche AfD-Wähler steht meist in der Mitte seines Lebens – unter den 36- bis 44-Jährigen erhielt die Partei die höchste Zustimmung (26 Prozent) –, besitzt keine höheren Bildungsabschlüsse (29 Prozent), ist eher als Arbeiter tätig (38 Prozent) und schätzt seine finanzielle Lage überwiegend als schlecht ein (39 Prozent). Aus dieser Figur speist sich der Frust in zurückgelassenen ländlichen Gebieten und klassischen Arbeiterbezirken in den Großstädten.
Die Wähler der AfD sind tendenziell jünger als die von Union und SPD.
Dazu beweist sich: Wer einmal die AfD wählt, macht keine Kehrtwende mehr. Die Partei griff von allen Parteien Millionen an Wählern ab. Rund eine Million Stimmen kamen von der Union, rund 900.000 Wähler von der FDP. Auch von den linken Parteien (SPD, Grüne, Linkspartei) wanderten rund 930.000 Stimmen an die AfD. Gleichzeitig hat die AfD abgesehen vom BSW an keine andere Partei Wählerstimmen verloren. Was einmal mehr den Ruf als Bewegungspartei stärkt. Wer sich einmal entschieden hat, die AfD zu wählen, und die damit verbundene soziale Ausgrenzung in Kauf nimmt, der bleibt der Partei treu – und lässt sich durch die Angebote der Union auch nicht mehr einfangen oder durch das verpasste Label „rechtsextremistisch“ abschrecken.
Das schlechte Ergebnis des BSW dürfte die AfD dennoch geärgert haben. Wäre die Wagenknecht-Partei in den Bundestag gekommen, hätte die Union mit der SPD und den Grünen koalieren müssen. Das wäre die optimale Ausgangslage für die AfD als Opposition gewesen. Man hätte die Union vor sich hertreiben können. Nun wird sich die AfD voraussichtlich mit einer schwarz-roten Koalition begnügen müssen, denn eine schwarz-blaue Koalition erübrigt sich durch die „Brandmauer“ ohnehin.
Doch schon am ersten Tag nach der Wahl bot die CDU/CSU ohnehin genügend Angriffsfläche. Plötzlich will Merz über eine Reform der Schuldenbremse diskutieren. Auch von Plänen, die Grenzen zu schließen, will er nichts wissen. Sollte Schwarz-Rot im Bund den „Berliner Weg“ einschlagen und wie Kai Wegner (CDU) in der Hauptstadt ein deutlich links geprägtes Bündnis mit der SPD eingehen, steht einem weiteren Aufstieg der AfD kaum etwas im Wege.
AfD-Wähler sind keine Wechselwähler.
Dankbar für das schlechte BSW-Ergebnis können nur einzelne Abgeordnete der AfD sein, die nun doch einen Platz im Bundestag ergattern. Aufgrund der Wahlrechtsreform wären mit einem Einzug des BSW deutlich mehr AfD-Abgeordnete, die eigentlich ihr Direktmandat gewonnen haben, nicht ins Parlament gekommen. Nun aber trifft die Reform „nur“ vier Abgeordnete aus dem Osten: Andreas Galau (Brandenburg), Christian Kriegel (Sachsen), Alexander Raue (Sachsen-Anhalt), Steffi Burmeister (Mecklenburg-Vorpommern).
Auffällig also, dass die Reform vor allem die Ostverbände trifft. Die sind auch aus anderen Gründen unter Druck: Denn in vielen Landesverbänden droht ein gewisser Brain-Drain. So wechseln beispielsweise in Thüringen wichtige Führungspersonen wie Stefan Möller (Landessprecher) oder Torben Braga (Vize-Landessprecher) aus dem Landtag in den Bundestag. Das wird Spuren hinterlassen.
Gleichzeitig wächst in der Partei auch die Angst vor der neuen Mega-Fraktion. Die AfD hat jetzt schon Probleme, vernünftiges Personal zu finden. Nun verdoppelt sich mal eben die Fraktionsgröße – und jeder Abgeordnete braucht vier bis fünf Büromitarbeiter, die ihr Handwerk verstehen. Schon jetzt blickt der ein oder andere Abgeordneten der AfD skeptisch auf die neue Legislaturperiode. Während sich die Fraktionsdisziplin in den vergangenen Jahren stetig verbessert habe, lauere nun die große Ungewissheit, heißt es aus Parteikreisen. Einige neu einziehende MdBs würden über wenig Parlamentserfahrung verfügen. Schafft es die Partei, sich weiter zu professionalisieren?
Auf der konstituierenden Sitzung am heutigen Dienstag sollen zumindest alle Abgeordneten in die Fraktion aufgenommen werden. Immer wieder hatte es Gerüchte gegeben, dass dies bei „Problem-MdBs“ wie Maximilian Krah oder Matthias Helferich nicht der Fall sein werde. Ein solcher Streit scheint bereits jetzt beigelegt zu sein. Zudem dürften Tino Chrupalla und Alice Weidel als Fraktionsvorstände bestätigt werden – auch wenn es intern immer wieder zaghafte Kritik an beiden gibt.
Chrupalla ist in der Partei als fleißiger Arbeiter beliebt und trat in den jüngsten TV-Runden immer selbstbewusster auf, wenngleich seine außenpolitischen Statements oder Besuche in russischen Botschaften mitunter für Kopfschütteln sorgen. Weidel ist das Aushängeschild der Partei, führte sie sicher durch den Wahlkampf, wird hinter vorgehaltener Hand jedoch mangelnde Führungsqualität nachgesagt. Auch in den Fernsehduellen wirkte ihre verbissene Art zuletzt nicht sympathiefördernd. Doch wer soll es sonst machen? Bislang rückt in der Partei niemand nach, der beiden Parteispitzen gefährlich werden oder sie beerben könnte. Das Personal ist dünn gesät, noch immer gibt es keine breite Kampagnenfähigkeit – und die Ziele sind hochgesetzt: 2029 soll es dann endlich mit der Regierungsverantwortung funktionieren.
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