
Es ist ein unglaublicher Vorgang, der sich in aller Öffentlichkeit abspielt: Die Spitzen von CDU, CSU und SPD wollen den neu gewählten Bundestag entmachten.
Vorgeblich geht es um die „Eilbedürftigkeit“: In der Phase zwischen abgewähltem und neugewähltem Parlament kann der alte Bundestag bei Eilbedürftigkeit noch Gesetze verabschieden.
So weit, so gut. Nun hat aber CDU-Chef Friedrich Merz klar erklärt: Eigentlich geht es nicht um Eilbedürftigkeit. Denn Grundgesetzänderungen und Schuldenpaket könnten ohne Zweifel auch zwei Wochen später verabschiedet werden. Es geht Merz darum, dass er im neuen Bundestag wegen des Erstarkens der AfD die notwendige Zweidrittelmehrheit nicht mehr erreichen könnte.
Der Staatsrechtler Dietrich Murswiek schreibt dazu in Tichys Einblick:
„Was die Spitzenpolitiker der Unionsparteien jetzt mit den SPD-Sondierern verabredet haben, ist ein strategischer Missbrauch der dem alten Bundestag in der Übergangszeit noch zustehenden Kompetenzen.“ Bislang habe der Bundestag stets respektiert, dass der alte Bundestag vor der Konstituierung eines neuen Bundestags nur in Notfällen entscheiden soll. Bei der einzigen Notfallentscheidung zum Einsatz der Bundeswehr im Kosovo habe es dafür eine Mehrheit im alten wie auch im neuen Bundestag gegeben. Das sei jetzt völlig anders, kritisiert Murswiek.
Jetzt werde eine Entscheidung nicht wegen eines Notfalls vorgezogen, sondern weil es im neuen Bundestag keine Mehrheit mehr für eine Verfassungsänderung gebe. „Nicht wegen Unaufschiebbarkeit des Vorhabens, sondern allein zu dem Zweck, den neu gewählten Bundestag auszutricksen und ihn mit Hilfe der alten Mehrheit vor vollendete Tatsachen zu stellen, soll jetzt noch schnell der alte Bundestag entscheiden. Dieses Vorgehen zeugt von Verachtung des Wählerwillens, ja, von Verachtung des demokratischen Legitimationsprozesses“, kritisiert der Staatsrechtler. „Eine abgehobene politische Klasse setzt sich arrogant über diejenigen hinweg, von denen in der Demokratie die Staatsgewalt ausgehen soll. Sie zeigt keinen Respekt vor dem Wahlergebnis und keinen Respekt vor dem Grundgesetz. Sie ändert noch schnell die Verfassung, weil sie die dafür erforderliche Mehrheit gerade bei der Wahl verloren hat.“
Von den einst 736 Mitgliedern des Bundestages räumen bereits fast 220 Abgeordnete von SPD, Grünen, FDP und BSW ihre Büros, weil sie ihre Mandate in der Bundestagswahl verloren haben. Aber über das größte Schuldenpaket sollen sie noch abstimmen?
Aber es geht noch toller. Die 30-Tage-Frist zwischen Wahl und Konstituierung wurde eingeführt, um die Wahlergebnisse zu überprüfen.
Der Bundeswahlleiter stellt (formaljuristisch) kein Ergebnis fest, sondern zählt nur zusammen, was die Wahlausschüsse in jedem der 299 deutschen Wahlkreise als Wahlergebnisse beschlossen haben. Da ist einiges im Internet zu finden. Zum Beispiel hat die Kreiswahlleitung im Oberbergischen Kreis bereits am 26. Februar das endgültige amtliche Wahlergebnis beschlossen. Inzwischen dürfte das in allen deutschen Wahlkreisen der Fall sein, und die Ergebnisse dürften über die Landeswahlleitungen an die Bundeswahlleitung gemeldet worden sein.
Der Bundestag kann sich nicht vor der Feststellung des endgültigen Wahlergebnisses durch den Bundeswahlausschuss konstituieren. Dieser hat seine hierfür vorgesehene Sitzung auf den 14. März terminiert. Es wäre möglich, dass der neue Bundestag sich direkt danach, am Montag, 17. März, konstituiert. Es besteht überhaupt kein Grund dafür, mit der konstituierenden Sitzung bis zum 25. März – das ist der letztmögliche und mittlerweile festgelegte Zeitpunkt – zu warten.
Das bedeutet: Nach den derzeitigen Plänen von SPD und CDU/CSU ist die erste Beratung für den 13. März im alten Bundestag vorgesehen. Demnach soll über das Vorhaben am 17. März nach zweiter und dritter Lesung abgestimmt werden.
Der neue Bundestag könnte sich stattdessen ebenso bereits am 17. März konstituieren – wenn er darf. Wer entscheidet darüber? Nach der Geschäftsordnung des Bundestages muss der Präsident des alten Bundestages, also Frau Bärbel Bas, den Bundestag zur konstituierenden Sitzung einberufen. Zu welchem Termin innerhalb der 30-Tage-Frist sie einberufen muss, ist nicht ausdrücklich geregelt.
Offensichtlich haben Bundestagspräsidentin Bärbel Bas und der Vorältestenrat den längstmöglichen Zeitraum gewählt, und in dem soll jetzt raffinierterweise das Schuldenpaket durchgewinkt werden.
Fraglich ist, ob die Abgeordneten des neuen Bundestages erzwingen können, den Bundestag zu einem früheren Zeitpunkt einzuberufen. Für Sitzungen des bereits konstituierten Bundestages gilt, dass die Präsidentin verpflichtet ist, den Bundestag zu einer Sitzung einzuberufen, wenn ein Drittel der Mitglieder des Bundestages dies verlangen.
Ob dies auch für die Einberufung zur konstituierenden Sitzung gilt, ist umstritten. Manche Staatsrechtler verneinen dies, weil es keine ausdrückliche Regelung gibt und weil der neue Bundestag vor seiner Konstituierung nicht handeln könne. Nach der Gegenauffassung, die zum Beispiel von Professor Murswiek vertreten wird, kann die Präsidentin des alten Bundestages den Termin aber nicht willkürlich bestimmen. Denn sie habe nach der Geschäftsordnung insoweit nur eine Hilfsfunktion, weil der neue Bundestag vor der Konstituierung noch keine Organe hat. Einer Willensbekundung der Abgeordneten des neuen Bundestages nach einem früheren Termin müsse sie deshalb folgen. Und da sich die Zuständigkeit der Bundestagspräsidentin nur aus der alten Geschäftsordnung und nicht aus dem Grundgesetz ergibt, müsste auch die Regelung der alten Geschäftsordnung über die Anzahl der Abgeordneten, die eine Einberufung des Bundestages verlangen können, entsprechend für die Einberufung zur konstituierenden Sitzung gelten.
Das Parlament und die Öffentlichkeit werden zweifach getäuscht: Es liegt keine Eilbedürftigkeit vor. Die wird nur fingiert, weil die neue parlamentarische Lage Friedrich Merz nicht behagt.
Zweitens wird über die Terminlage getäuscht: Der neue Bundestag könnte praktisch zeitgleich einberufen werden und sofort entscheiden.