
Überbordende Bürokratie kostet deutsche Firmen jährlich etwa 146 Milliarden Euro, wie das Ifo-Institut im Mai in einer Studie ermittelte. Auch im Ausland wird darüber berichtet. Das Wall Street Journal (WSJ) verfolgt am Beispiel eines Wollbetriebs in Norddeutschland die Wirren der deutschen Bürokratie. Berichtspflichten, Dokumentationen und Anträge kosten jährlich etwa 1,02 Milliarden Arbeitsstunden.
Exemplarisch zeigt sich der Bürokratie-Wahnsinn etwa anhand der Firma Nordwolle. Diese bietet Outdoor-Kleidung aus regionaler Schafwolle an. Der Firmeninhaber Marco Scheel befindet sich jedoch, rechtlich gesehen, illegal im Hauptgebäude der Firma. Denn das über 200 Jahre alte Haus, das umgebaut wurde, hat ein Metalldach. Die Stadtverwaltung sah deshalb den Ort nicht als geeignet für Mitarbeiter an, sondern nur zur Unterbringung von Pferden, wie das WSJ berichtet.
Eine Metalltreppe dient der Firmaals provisorischer Feuerausgang. Doch die Metalltreppe steht auf einer Granitplatte. Weil Granit als Naturmaterial angesehen wird, brauche es dafür eine besondere Genehmigung. Bisherige Verhandlungen mit der Verwaltung sollen die Firma bereits 25.000 Euro gekostet haben. Dennoch könnte die Firma aufgrund dieses formalen Mangels jederzeit geschlossen werden.
Gegenüber dem Wall Street Journal äußerte sich hierzu ein Beamter des Landkreises Nordwestmecklenburg, der sich mit der Baugenehmigung befasst. Demnach stehe das Anwesen in einer ländlichen Gegend, die nicht für die allgemeine Bebauung ausgewiesen sei. Daher müssten strengere Regeln befolgt werden. Man habe jedoch das veränderte Konzept für die Treppe anerkannt und werde Nordwolle entsprechend nicht auffordern, das Gebäude zu räumen.
Die amerikanische Zeitung fürchtet angesichts der vielen Bürokratie in Deutschland, dass das Infrastrukturpaket von 500 Milliarden Euro und die geplanten Verteidigungsausgaben kaum wirtschaftliches Wachstum bringen könnten. Das WSJ verweist darauf, dass die deutsche Wirtschaft in den letzten fünf Jahren nicht gewachsen ist.
Scheel hat zudem eine Küche einbauen lassen, damit die Mitarbeiter sich kostenlos Essen kochen können. Doch die Idee des kostenlosen Essens verwarf er wieder, stattdessen verlangt er nun pro Essen 3,50 Euro. Denn es stellte sich heraus, dass kostenloses Essen eine steuerpflichtige Leistung ist, deren Wert bei jedem Mitarbeiter auf der monatlichen Gehaltsabrechnung aufgeführt werden muss. Doch dazu fehlen die Kapazitäten.
Seit 2009 hat sich die Anzahl der Wirtschafts-, Finanz- und Steuergesetze etwa verdoppelt. Das ergab eine Studie von Stefan Wagner, einem Professor für Technologie- und Innovationsmanagement an der Universität Wien. Seine Untersuchung zeigte auch, dass die Gesetze immer länger und ausführlicher werden. Einer Ende Mai veröffentlichten Umfrage zufolge sehen 90 Prozent der deutschen Führungskräfte Bürokratieabbau als dringendstes Problem an. Die neue Bundesregierung hat sich vorgenommen, Bürokratie abzubauen. Doch ob das gelingen wird, ist fraglich.