Die Blitzradikalisierung des Verfassungsschutzes: Wie der Inlandsgeheimdienst die Opposition zu unterdrücken lernte

vor 3 Monaten

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Bildquelle: NiUS

Die 2021 eingeführte Kategorie „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung“ des Bundesamtes für Verfassungsschutz ist geradezu undefinierbar und dient dazu, fundamentale Regierungskritik zu verfolgen. NIUS zeigt in fünf Schritten, wie sich der Verfassungsschutz so weit radikalisiert, dass inzwischen falsche Gesinnungen und Meinungen geheimdienstlich verfolgt werden.

Es beginnt 2015 mit einer „mündlichen Anweisung“, geht über die Einführung jener Kategorie und mündet in der Umdeutung von zugespitzter Kritik zu „Staatsdiffamierung“.

Am 13. September 2015 gab es keinen Putsch, keinen Bundestagsbeschluss, keine Notstandserklärung. Und doch wurde an diesem Tag geltendes Recht außer Kraft gesetzt – durch einen einzigen Satz: Die Bundespolizei solle an der Grenze nicht länger zurückweisen. So lautete die „mündliche Weisung“, mit der Innenminister Thomas de Maizière (CDU) im Auftrag der damaligen Kanzler Angela Merkel die Grenzen öffnete. Diese Anweisung erfolgte mündlich, wurde – soweit bekannt – nie schriftlich fixiert.

Zehn Jahre später hebt der neue Bundesinnenminister Alexander Dobrindt diese Anweisung auf. Der CSU-Mann handelt so, wie es in einem Rechtsstaat selbstverständlich sein sollte: Er stellt wieder her, was das Asylgesetz (§18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG), die Dublin-III-Verordnung und sogar das EU-Recht längst vorsehen – nämlich die Möglichkeit zur Zurückweisung an der Grenze, wenn keine Zuständigkeit besteht. Was Merkel einführte, war keine demokratische Politik, sondern Anmaßung: Sie regierte nicht nur an den Volksvertretern vorbei, sondern überging auch das Prinzip der Gewaltenteilung und der parlamentarischen Kontrolle.

Alexander Dobrindt (CSU) beendete die dekretierte Außerkraftsetzung geltenden Rechts.

Dabei wäre ein schneller Eingriff – etwa bei plötzlichem Migrationsdruck – durchaus gedeckt. Das Bundesinnenministerium ist weisungsbefugt, auch mündlich, in echter Notlage. Doch eine Notlage ist kein Dauerzustand. Spätestens nach wenigen Wochen hätte der Bundestag einschreiten, das Exekutivhandeln kontrollieren und legitimieren müssen. Stattdessen: Schweigen, Verschleierung, ideologisches Framing.

So wurde aus einem Ausnahmezustand ein Dauerzustand. Die mündliche Anweisung blieb auch nach Regierungswechseln in Kraft – ein staatsrechtliches Novum. Juristisch gerechtfertigt wurde die Praxis mit dem Argument, deutsches und europäisches Recht ließen gar nichts anderes zu. Doch das Gegenteil ist richtig. Das nationale Recht (AsylG § 18) ist eindeutig: „Dem Ausländer ist die Einreise zu verweigern, wenn er aus einem sicheren Drittstaat (§ 26a) einreist.“ Ähnlich steht sogar in Artikel 16a des Grundgestzes.

Artikel 72 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) regelt in den „Bereichen Asyl, Einwanderung und Kontrollen an den Außengrenzen“. Den Mitgliedstaaten erlaubt er ausdrücklich, im Bereich der inneren Sicherheit eigene Maßnahmen zu ergreifen – auch wenn sonst EU-Recht greife. Er betont die nationale Zuständigkeit bei bedrohter öffentlicher Sicherheit (ohne Ausrufung einer Notlage) – ein bewusst eingebauter Schutzmechanismus: Kein EU-Recht verpflichtet ein Land, seine innere Ordnung preiszugeben. Es erlaubt, im Gegenteil, sie in nationaler Souveränität zu schützen.

Der europäische Rechtsrahmen ist hier also durchaus modern – er respektiert nationale Selbstbestimmung und verlangt nicht, sie aufzugeben. Die Praxis des Jahres 2015 aber war das genaue Gegenteil: Die Regierung suspendierte geltendes Recht, täuschte Zwang vor, wo in Wahrheit souveräne Entscheidung gefragt gewesen wäre. Und das hatte Folgen – insbesondere für die innere Sicherheit, wie die Kriminalstatistiken (PKS) beweisen. Die gängigen Einwände, wonach diverse Verzerrungseffekte (Stichwort: „australischer Austauschschüler“, Louis Klamroth bei hart aber fair) ein irreführendes Bild zeichnen, sind leicht zu entkräften. Übereinstimmende, überproportionale Zunahmen in Deliktkategorien wie sexueller Gewalt beweisen: Der illegale Zustrom von jungen Männern aus patriarchal-islamischen Kriegsregionen hat die innere Sicherheit deutlich beschädigt. Näheres dazu hier:

Kaum hatte sich der Protest gegen diese ungesetzliche, undemokratische, per „mündlicher Anordnung“ ermöglichte Politik formiert, deren Folgen erheblich zur Stärkung der AfD beitrugen, wurde er als Gefahr definiert – lange Zeit hauptsächlich mit Rassismusvorwürfen. Seit 2021 gewinnt eine neue Vorwurfkategorie an Bedeutung, die ursprünglich nicht der AfD gewidmet war. Der Verfassungsschutz erfindet als Reaktion auf die Corona-Proteste einen neuen Phänomenbereich: „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“.

Was das heißen soll, erklärt das Bundesamt so:

„Die staatlichen Schutzmaßnahmen gegen die Coronapandemie und die damit einhergehenden Freiheitseinschränkungen (…) dienten in einzelnen Fällen auch als Vorwand und Hebel, um die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung als solche zu bekämpfen.“

Das Lügenverbot aus dem Koalitionsvertrag hatte einen Vorboten: Die Neuschaffung eines willkürlich auslegbaren Phänomenbereichs.

Wer sich also gegen Grundrechtseinschränkungen wendet, steht unter Verdacht, die freiheitliche Ordnung zu gefährden. Und wer staatliche Maßnahmen grundsätzlich infrage stellt, „delegitimiert“ den Staat – mit der Folge, dass er beobachtet werden kann. Damit vollzieht sich ein Wandel: Aus dem Schutz der republikanischen Ordnung, für den der Verfassungsschutz einen gesetzlichen Auftrag hat, wird der Schutz des staatlichen Ansehens – eine gefährliche Verschiebung, die an Strafparagrafen der DDR („Staatsverleumdung“) erinnert (NIUS-Analyse hier).

Inzwischen hat diese Kategorie ein Eigenleben entwickelt. Sie wurde entkoppelt von den Corona-Protesten – und dient nun auch als Begründung für die Beobachtung und „Hochstufung“ der AfD. Die Vorwürfe, die gegen die AfD erhoben werden, gliedern sich in zwei Klassen. Die erste betrifft eine angeblich „ethnische“ Auslegung des Volksbegriffs, die zweite fußt auf dem Prinzip der Delegitimierung – ohne es zwingend so zu nennen. Kritische Sprache, polemische Formulierungen, Regierungskritik mit historischen Analogien: All das reicht inzwischen, um einen Verdachtsfall zu begründen, und stützt die politisch interessierte, keineswegs unabhängige Behauptung, wonach die AfD angeblich die Bundesrepublik abschaffen und durch ein System ersetzen will, das führende Politiker und Journalisten wiederholt mit dem Nazi-Regime vergleichen und gleichsetzen – ein Vorgang, der nach aktueller Rechtsprechung selbst den Tatbestand der Verharmlosung erfüllen könnte (NIUS-Analyse hier).

Beispiele gibt es reichlich – und sie lesen sich wie polemische, grobe, aber fast ausnahmslos legitime Opposition in normalen Demokratien, wie es sie in anderen europäischen Ländern auch gibt, wo „rechtspopulistische“ Parteien teils auch an der Regierung beteiligt sind.

„Die Altparteien tragen die Verantwortung für die Zustände in Deutschland: Sie regieren wie ein politischer Swingerclub. Jeder mit jedem, alles und immer. Und das seit 75 Jahren.“ – Stephan Brandner, MdB (AfD)

Was früher als zugespitzte Metapher durchging, gilt heute als staatsgefährdend. Laut Bild-Bericht über das Geheimgutachten des Verfassungsschutzes ist sogar Folgendes problematisch:

„Auch Vergleiche mit der DDR, der SED oder anderen totalitären Systemen zielen darauf ab, das Vertrauen der Bevölkerung in eine funktionsfähige Demokratie zu unterwandern.“

Politische Kritik also – selbst in polemischer Form – wird zur Strategie des Umsturzes uminterpretiert. Wer von „Systemparteien“ spricht, von „Kartellen“ oder von einer „Scheindemokratie“, läuft Gefahr, unter Beobachtung gestellt zu werden.

AfD-Parteivorsitzende Alice Weidel

Der AfD wird etwa zur Last gelegt, sie untergrabe das Vertrauen in das politische System, wenn sie anderen Parteien die Integrität abspricht – was die schwachen Belege bei weitem nicht tragen können. Etwa:

„Wir werden von Antideutschen regiert, die nach dem Motto handeln: Deutschland zuletzt, und das für Moral halten.“ – Maximilian Krah, AfD

Der Verfassungsschutz wertet das laut öffentlich bekannt gewordenen Auszügen des Gutachtens als systematische „Verunglimpfung“ des Staates“. Man nimmt Anstoß an Begriffen, an Tonlagen, an historischer Symbolik – etwa auch daran, dass AfD-Politiker Minister mit der DDR oder gar dem NS-Regime vergleichen. Zum Beispiel:

„Nach 80 Jahren tragen deutsche Minister im Ausland wieder Armbinde. #OneLove #Faeser“ – Karsten Hilse, AfD

Der Vorwurf lautet: Gleichsetzung der Bundesrepublik mit einem totalitären Staat. Doch was, wenn diese Vergleiche Ausdruck legitimer Sorge sind? Sie sind jedenfalls, wenn auch überspitzt und überzogen, von der Meinungsfreiheit gedeckt und keineswegs Vorboten einer verfassungsfeindlichen Bestrebung.

Die Umdeutung des Schutzauftrags ist fundamental. Ging es früher darum, verfassungsfeindliche Aktivitäten aufzudecken – also Umsturzpläne, Gewaltaufrufe, Organisationen mit revolutionärer Agenda –, genügt heute bloß die „falsche“ Haltung oder Gesinnung.

Mit der Kategorie der „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung“ hat sich der Verfassungsschutz ein Instrument geschaffen, das auf alles anwendbar – und gerade deshalb so gefährlich ist. Denn „Delegitimierung“ und „verfassungsschutzrelevant“ sind interpretationsbedürftig und entziehen sich objektiver Überprüfbarkeit, anders als die traditionellen Kategorien, die unter dem bürgerlichen Verfassungsschutzpräsidenten Hans Georg Maaßen genutzt wurden – Linksextremismus, Rechtsextremismus, Islamismus. Im Gegensatz zu ihnen basiert „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung“ auf einem Zirkelschluss: Die Bewertung selbst ist das Kriterium.

Juristisch ist das Ganze mehr als fragwürdig. Das Bundesverfassungsschutzgesetz (§ 3 BVerfSchG) erlaubt Beobachtungen nur bei Bestrebungen, die aktiv und planvoll gegen die freiheitliche Grundordnung gerichtet sind. Nicht bei bissiger Rhetorik, Staatskritik und abweichenden Deutungen des politischen Geschehens. Die zirkuläre Logik öffnet einen Deutungsspielraum, der den gesetzlichen Rahmen überschreitet. Das ermöglicht faktisch eine Ausweitung der Beobachtung auf oppositionelle Kräfte.

Welt-Kolumnist Harald Martenstein warnt mit Verweis auf einen Artikel vom Tagesspiegel („Sogar für Hausmeister könnte es nun eng“) werden: „Der Staat, der sich hier abzeichnet, wäre wirklich keine Demokratie mehr, sondern ein autoritäres Regime. Zum dritten Mal in der neueren deutschen Geschichte würde das also passieren.“

Lesen Sie auch:AfD-Einstufung durch Verfassungsschutz: Ein Geheimbericht, der nichts beweist – und ein Spiegel-Artikel, der genau das zeigt

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