
Wir müssen angesichts dieses Wahlergebnisses über die deutsche Geschichte sprechen, über unsere deutsche Vergangenheit und über Erinnerungskultur. Und über junge Menschen. Junge Menschen in Berlin. Junge Menschen wie Dieter Wohlfahrt, Peter Böhme, Horst Frank, Axel Hannemann oder Peter Fechter.
Das sind nur einige derer, die in Berlin an der Mauer erschossen wurden, sie alle waren in ihren Zwanzigern. Nur wenige Jahrzehnte später sind es Wähler im Alter dieser Maueropfer, die jetzt die Linke in Berlin zur stärksten Kraft gemacht haben – und bundesweit am stärksten für die Linke stimmten. Viele derer, die sich vor wenigen Wochen noch unter das Brandenburger Tor stellten und vermeintliche Lehren aus der Geschichte beschworen, wählten jetzt die SED-Erben. Sie standen dort, wo die DDR-Grenztruppen 1968 den 29-Jährigen Siegfried Krug erschossen. Der Schütze wurde für seinen Mord ausgezeichnet.
Aus der Linken ist mittlerweile zuvorderst eine junge, urbane Partei geworden. Sie holte ihre besten Wahlergebnisse unter anderem in Berlin und Bremen, blieb in Leipzig stark und erzielte auch in vielen anderen Städten respektable Ergebnisse – in eher geringbesiedelten, ostdeutschen Wahlkreisen hingegen war das BSW ihnen oft dicht auf den Fersen oder sogar voraus. Das zeigt: Die Linke hat ihre Wählerklientel weitgehend ausgetauscht. Sie verlor an BSW und AfD, gewann aber insbesondere ehemalige Rot-Grüne und Nichtwähler und zog vor allem junge Menschen an.
Wie aus der Zeit gefallen wirkte da die „Operation Silberlocke“ – Die Linke hat Gregor Gysi aus der Mottenkiste geholt und ihn mit Dietmar Bartsch und Bodo Ramelow als eine Art Maskottchen für den Wahlkampf aufgestellt. Gysi ist populär, auch und gerade bei vielen jungen Menschen. Oft wissen sie nicht, dass Gysi jahrzehntelanges SED-Mitglied und später Parteichef war oder dass – trotz vehementer Dementi seinerseits – seit Jahrzehnten umfangreiche Stasi-Vorwürfe gegen Gysi im Raum stehen.
Genauso wenig oft über die Fragen nach den Milliarden des SED-Vermögens, welche unter der Führung von Gysi auf seltsame Art über Moskauer Briefkastenfirmen und andere Wege abgeführt wurde; dass es offizielle Anweisungen darüber gab, wie man Geld „verschwinden“ lassen könne. Der Spiegel zitiert aus einem Schreiben aus dem Frühjahr 1990: „Finanzielle Mittel werden in bar von der Handelsbank abgefordert (…), anschließend werden diese Mittel auf ausländischen Banken, auf bereits eingerichteten Nummernkonten durch Mittelsmänner deponiert. Der entsprechende Weg dazu ist vorbereitet und absolut sicher (…).“
Man zahlte auch hunderte Millionen in Form von angeblichen Almosen für verdiente Parteimitglieder aus. Gysi selbst schrieb seinem Kassenwart Dietmar Bartsch ein Jahr später einen Brief mit Anweisungen, Parteispenden „wie bisher“ nur in Bargeld zu verwenden und bat „Dieti“, wie er ihn nannte, diesen Brief „zu vernichten“.
Das alles ist egal, vergessen. Derselbe Gysi darf jetzt als Alterspräsident den neuen Bundestag eröffnen und Dietmar Bartsch verspottet Leute völlig offen, die ihn in sozialen Medien auf das verschwundene Vermögen ansprechen. Kollektiv erinnert sich Deutschland an gar nichts mehr.
Und diejenigen, die vor Wochen noch im Todesstreifen standen und Lehren aus der Geschichte forderten, machten die SED-Linke zur stärksten Kraft in ihrer Stadt. Ernüchternde Bestandsaufnahme für ein Land, das sonst so stolz auf seine Erinnerungskultur ist.