
Es sind Szenen, wie sie sonst eigentlich nur im Stadion beheimatet sind. Der Gästestürmer bekommt den von ihm erhofften Einwurf nicht. Provokativ wirft er den Ball erstmal ein paar Meter weiter weg, um den Spielverlauf zu verzögern. Im Gastgeberstadion wird diese Handlung mit Empörung beantwortet. „Alle auf die 9, alle auf die 9, alle, alle, alle auf die 9.“
Die Nummer 9 des politischen Berlins, auf die sich die ganze Tribüne emotional einschießt, scheint die Schuldenbremse zu sein, vergleicht Wolfgang Steiger, Generalsekretär des Wirtschaftsrats, in seiner aktuellen Kolumne. „Und in der Tat ist die Qualität der Angriffe auf die Fiskalregel mittlerweile von grölenden Fußballschlachtrufen kaum mehr zu unterscheiden“, schreibt der Experte.
SPD-Parteichefin Saskia Esken will die Schuldenbremse zügig aus dem Weg schaffen.
Die SPD-Parteivorsitzende Saskia Esken ruft etwa in Kneipen-Manier: Die Schuldenbremse erweise sich „mehr und mehr als Zukunftsbremse“. „Robert Habeck sieht in ihr gar den entscheidenden Faktor, der uns von den wirtschaftlich erfolgreichen Staaten unterscheidet. Der Grünen-Fraktionsvize Andreas Audretsch sekundiert umgehend und personifiziert das angebliche Problem Deutschlands sogar: Friedrich Merz, Markus Söder und Christian Lindner seien mit dem Beharren auf die Einhaltung der Schuldenbremse der ‚Sand im Getriebe‘ des Wirtschaftsstandortes.
Grünen-Fraktionsvize Andreas Audretsch
Doch die letzten Jahre haben eindrucksvoll gezeigt, dass sich Wohlstand eben nicht mit großzügigen Krediten gleichsetzen und die Herausforderungen mangelnder Wettbewerbsfähigkeit sich nicht durch reflexartiges Zuschütten mit staatlichem Geld oder politisches Mikromanagement beheben lassen. Deutschland ist mit seinen Steuer-, Regulierungs-, Arbeits- und Energiekosten derzeit kein wettbewerbsfähiger Wirtschaftsstandort und braucht einen harten marktwirtschaftlichen Reformkurs“, attestiert Steiger. Er schreibt: „Mehr Subventionen, Staatseingriffe und Regulierungen werden daran genauso wenig ändern wie die Aufhebung der Schuldenbremse. Vor allem scheinen den Fiskalregelkritikern die möglichen Folgen ihrer leichtfertigen Parolen nicht bewusst zu sein.“
Robert Habeck mit dem Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller
Doch fest steht: Die Steuerabgaben sind sowohl von Bürgern als auch Unternehmen auf einem Rekordhoch. Das gelte absolut genauso wie relativ zum Bruttoinlandsprodukt. Steiger dazu: „Der Bundeshaushalt ist riesig. Doch die Qualität der staatlichen Leistung stagniert bestenfalls. Die Mittel werden ineffizient und für die falschen Dinge eingesetzt, die Staatsquote ist zu hoch. Es ist die Kernaufgabe einer jeden Regierung abzuwägen, wie sie mit ihrem Geld auskommt und welche Ausgaben sie finanzieren kann und will. Sollen neue Aufgaben finanziert werden, gehören andere auf den Prüfstand. Die Ampel-Regierung hat jedoch die Kraft für eine investitionsfördernde und auf Wachstum ausgerichtete Haushaltsstruktur nicht aufbringen können. Punkt.“
Dass man nun nach Schuldenprogrammen, Sondervermögen und einem defizitfinanzierten Deutschlandfonds rufe, sei für Steiger nichts anderes als der „Ausdruck einer politischen Trägheit, die sich der mühsamen Neuordnung von haushälterischen Prioritäten entzogen hat.“
Finanzminister Christian Lindner (FDP) hält an der Schuldenbremse fest.
Steiger sieht in der Aussetzung der Schuldenbremse noch weitere Risiken: „Demografische Herausforderungen und ungeklärte Fragen zur Altersvorsorge“ würden unmittelbar folgen. „Statt so zu tun, als ob ein ausgeglichener Haushalt unter normalen wirtschaftlichen Bedingungen eine groteske Besonderheit sei, sollte die Diskussion um die Schuldenbremse sich deshalb auf ein anderes Problemfeld konzentrieren“, fordert Steiger.
Der Wirtschaftsexperte erinnert daran: „Normalerweise würde eine stabilitätsorientierte Politik dazu führen, dass die Bürger und Unternehmen über eine niedrige Inflation im Inland und den Außenwert der Währung profitieren – wie früher mit der D-Mark oder heute in der Schweiz. Doch obgleich sich alle EU-Länder 2012 im sogenannten Fiskalpakt zu entsprechenden Ausgabenbremsen und entsprechenden Korrekturmechanismen verpflichtet haben, hat sich außer Deutschland kaum ein großes Euro-Land an die Vorgaben des Fiskalpaktes gehalten. Über dieses Spannungsfeld muss viel stärker gesprochen werden. Die Schuldenbremse ist auf der einen Seite eine schlichte Notwendigkeit, um die Stabilität der Währungsunion aufrechtzuerhalten.“
Sein Appell an die Ampel: „Verantwortungsvolle Politik würde ihre Fangesänge hierauf richten.“
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