
Am 13. Mai 2025 wurde das Gutachten des Bundesamts für Verfassungsschutz zur AfD von Cicero, NIUS und der Jungen Freiheit vollständig veröffentlicht (hier finden Sie das gesamte Gutachten). Das Dokument mit über 1.100 Seiten diente als Grundlage für die Einstufung der Partei als „gesichert rechtsextreme Bestrebung“.
Die Veröffentlichung des Dokuments hat eine vielschichtige Debatte ausgelöst: über die Rolle des Verfassungsschutzes, über die Grenzen öffentlicher Kritik – und über die politische Verantwortung im Umgang mit einem Dokument, das eigentlich geheim bleiben sollte.
NIUS dokumentiert vier journalistische Stimmen. Sie beleuchten die Ereignisse und werfen ein Schlaglicht auf unterschiedliche Deutungsrahmen:
Für Ronen Steinke in der Süddeutschen Zeitung ist die Veröffentlichung des Gutachtens kein Skandal. Er fragt rhetorisch: „Ist das jetzt schon ‚rechts‘? Ist es schon anrüchig, wenn man das Bundesamt für Verfassungsschutz, diesen derzeit obersten staatlichen Kämpfer gegen völkisches AfD-Denken aus der Sicht vieler Menschen, mit solch einer Aktion verärgert?“ Und antwortet gleich selbst: „Kurze Antwort: Nein.“ Der erste, der das Dokument veröffentlichte, war Mathias Brodkorb bei Cicero, der nicht nur Journalist, sondern auch früherer SPD-Finanzminister in Mecklenburg-Vorpommern ist. Dass das Dokument zunächst hinter einer Paywall erschien, sorgte für Spott, so Ronald Steinke: „Ein ‚Verkauf von Staatsgeheimnissen‘, unkten deshalb Scherzkekse auf X.“
Doch Steinke stellt klar, dass der Inhalt kaum Staatsgeheimnisse offenbare: „Brisante Spionage-Details finden sich im Gutachten jedenfalls auf den ersten Blick keine.“ Stattdessen enthalte das Dokument „lauter öffentlich schon bekannte Zitate von AfD-Leuten, sei es aus dem Parlament oder von Facebook“, die der Dienst „übersichtlich geordnet und rechtlich analysiert“ habe. Zwar stehe auf jeder Seite die Einschränkung „Keine Weitergabe außerhalb des VS-Verbundes“, aber warum, bliebe unklar. Dass das Gutachten überhaupt als geheim eingestuft wurde, erscheint ihm fragwürdig – auch vor dem Hintergrund, dass viele den Wunsch geäußert hatten, der Verfassungsschutz möge seine Analyse der Öffentlichkeit zur Diskussion stellen. Steinke betont: „Diese Forderung haben in den vergangenen Tagen sehr viele, quer auch durch die Parteien, an den Verfassungsschutz und auch an das Bundesinnenministerium gerichtet.“ Nun sei das Material verfügbar und die Frage sei „wie man mit dem Inhalt umgeht. Und ob man sich der Deutung anschließt, die etwa Nius und Junge Freiheit überaus rasch verbreiteten, nämlich: Das sei doch alles arg dünn und substanzlos.“
Journalist Ronen Steinke spricht sich grundsätzlich für ein AfD-Verbot aus.
In einem Fernsehinterview mit Welt begründete der frühere SPD-Politiker und heutige Cicero-Kolumnist Mathias Brodkorb, warum er sich zur Veröffentlichung des vollständigen AfD-Gutachtens entschlossen hat – und rechnet zugleich scharf mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz ab. Während er in der Vorwoche das Durchstechen von Auszügen an den Spiegel noch als möglichen Geheimnisverrat kritisiert hatte, sieht er in der journalistischen Veröffentlichung durch sein eigenes Magazin eine durch das öffentliche Interesse gedeckte Handlung. Es handle sich, so Brodkorb, um einen „tiefen Einschnitt in die Demokratie, einen tiefen Einschnitt in Grundrechte“. Angesichts einer solch folgenreichen Entscheidung dürfe es „nicht sein, dass die Öffentlichkeit die Gründe nicht erfährt. Die seien geheim – und das ist, glaube ich, eine schwere Belastung für Demokratie und Rechtsstaat.“
Er verweist auf die rechtliche Unterscheidung zwischen Amtsträgern und Journalisten: Für erstere könne das Weitergeben des Dokuments eine Straftat sein – für Pressevertreter hingegen sei die Veröffentlichung vom Strafgesetzbuch ausdrücklich ausgenommen, „um kritischen Journalismus zu ermöglichen“. Das überwiegende öffentliche Interesse sei entscheidend gewesen: „damit sich jeder Bürger selber seine Meinung bilden kann“.
Das veröffentlichte Gutachten selbst beurteilt Brodkorb äußerst kritisch. Nur etwa 20 Prozent der angeführten Belege hält er für substanzvoll, der Rest sei „herbeikonstruiert“. Er findet klare Worte: „Ich finde es wirklich bedenklich, wenn auf diesem Niveau in einer Behörde gearbeitet wird, die eigentlich für den Schutz von Demokratie und Rechtsstaat zuständig ist.“ Der Ton wird noch schärfer, als es um den Vorwurf geht, AfD-Politiker verwendeten sogenannte rechtsextreme Codes. Konkret nennt der Verfassungsschutz etwa eine Verbindung zwischen Höckes früherer Aussage über das „Denkmal der Schande“ und Alice Weidels späterer Rede, in der sie von „Windmühlen der Schande“ sprach. Brodkorb nennt das „wirklich lächerlich“. Solche Schlüsse seien keine seriöse Arbeit: „Das nähert sich eher einem Fall für die Psychiatrie.“
Auch die häufig zitierten Begriffe und Namen wie „Globalisten“ oder „Soros“, die der Verfassungsschutz als rechte Chiffren wertet, weist Brodkorb zurück. Das sei bloß „eine Selbstinszenierung des Verfassungsschutzes, besonders klug und informiert auszusehen“. Tatsächlich seien die problematischen Äußerungen oft ohnehin öffentlich getätigt worden – man brauche keine Chiffren, um sie zu identifizieren. Umso unverständlicher sei es, dass der Verfassungsschutz in seinem Gutachten das offizielle Parteiprogramm oder das Wahlprogramm der AfD völlig ausblende. „Und das wären ja zentrale Texte, über die man schreiben müsste, weil sie den Willen der Partei repräsentieren.“ Der Grund dafür liegt für Brodkorb auf der Hand: „Weil zumindest in Wahlprogrammen und Parteiprogrammen auch nichts drinsteht, was verfassungsfeindlich ist.“
Andreas Rosenfelder sieht in der Veröffentlichung des Gutachtens vor allem einen Anlass zur Kritik am Verfassungsschutz selbst. Für ihn ist der zentrale Skandal nicht, dass das Dokument veröffentlicht wurde, sondern was darin angeführt wird. Besonders stößt ihm auf, dass Kritik an den Corona-Maßnahmen als Hinweis auf eine verfassungsfeindliche Gesinnung gewertet wird. Wörtlich zitiert er das Gutachten: „Die AfD knüpfte bei der Beschreibung des deutschen Staates als Diktatur oder Regime an das behördliche Agieren während der COVID-19-Pandemie an und versuchte, ihre – das politische Handeln delegitimierenden – Narrative insbesondere durch eine verzerrte Darstellung der COVID-19-Schutzmaßnahmen zu untermauern.“ Für Rosenfelder ist das eine gefährliche Umkehrung: „Gäbe es tatsächlich autoritäre Fehlentwicklungen, so dürften die Bürger diese demnach nicht benennen, ohne sich verdächtig zu machen.“
Er warnt davor, dass der Begriff „Delegitimierung“ im Gutachten auf eine Weise gebraucht wird, die auch berechtigte Kritik unter Generalverdacht stellt. Besonders problematisch sei die Idee, dass nicht nur die allgemeine Delegitimierung des Staates, sondern bereits die Delegitimierung „konkreten politischen Handelns“ als verfassungsfeindliche Intention bewertet werde. Das bedeute faktisch: „Je berechtigter die Kritik, umso gründlicher – und heilsamer! – die delegitimierende Wirkung.“ Als besonders absurd empfindet Rosenfelder die Beispiele, die das Gutachten anführt. So wird etwa einem Bundestagsabgeordneten zur Last gelegt, er habe gesagt, die Pandemiepolitik habe auf „monströsen Lügen“ beruht. Rosenfelder kommentiert: „Der Vorwurf, die Politik lüge, führt zu einem Aktenvermerk beim Verfassungsschutz?“ und spottet: „Man würde den Verfassern gern einen Karton mit Ausgaben von Orwells ‚1984‘ in ihre Kölner Büros schicken.“
Auch drastische Vergleiche, wie sie in der Pandemie häufig von Kritikern gezogen wurden, etwa zur NS-Zeit oder zur DDR, hält Rosenfelder für keine ausreichende Grundlage, um jemanden als rechtsextrem zu markieren. Vielmehr seien es oft Warnungen „im Gedenken an beide deutsche Diktaturen“, um „menschenverachtende Entwicklungen schon im Ansatz zu verhindern“. Der Verfassungsschutz aber wolle diesen Kontext offenbar gar nicht erst würdigen. Sein Fazit: „Ein wirklich demokratischer Verfassungsschutz sollte sich anders verhalten als das Bundesamt für Verfassungsschutz – sonst beschädigt er selbst das Vertrauen in die Institutionen des Rechtsstaats.“
In der taz schildert Gareth Joswig die Veröffentlichung als kalkulierten Schritt der AfD selbst. Seiner Einschätzung nach hat die Partei das Gutachten „wohl an Rechtsaußen-Medien durchgestochen“. In der Folge habe sich in den sozialen Netzwerken ein inszeniertes Schauspiel entfaltet: „AfD-Politiker wiederholen ihre rassistischen Aussagen, prahlen damit, wie breit sie zitiert werden, bezeichnen den Verfassungsschutz als Stasi.“ Besonders scharf kritisiert Joswig, dass selbst der Hauptaccount der Partei sich nicht scheue, „an verbotene SA-Parolen angelehnte Wahlkampfslogans erneut wiederzukäuen.“
Joswig sieht darin keinen PR-Gau, sondern den selbstbewussten Ausdruck einer Partei, die sich längst außerhalb des demokratischen Konsenses positioniert hat. Er schreibt: „Wer sich über das rechte Getöse in den sozialen Medien hinaus die über 1.108 Seiten voller Belege durchliest, bekommt ein recht eindeutiges Bild einer zutiefst rassistischen und rechtsextremen Partei, die insbesondere mit ihrem ethnischen Volksverständnis und der Islamfeindlichkeit den Verfassungsbogen verlassen hat.“ Die AfD zeige durch ihre Reaktion selbst, dass der Verfassungsschutz richtig liege: „Die Partei ist stolz auf ihre Radikalität, wie sie nun breit zur Schau stellt. Sie beweist damit einmal mehr einen Befund aus dem VS-Gutachten: Es ist nicht davon auszugehen, dass diese Partei sich deradikalisiert.“
Wer angesichts dieser Faktenlage die Hochstufung der AfD weiterhin als übertrieben oder lächerlich darstellt, betreibe Verharmlosung – oder offenbare die eigene Nähe zur Partei, so Joswig: „Wer die Einstufung als ‚gesichert rechtsextrem‘ trotzdem lächerlich findet, verrät vor allem viel über den eigenen Standpunkt.“
Mehr NIUS: Das geheime AfD-Gutachten: Lesen Sie HIER selbst, was drin steht