
Nach der Einstufung der AfD als „gesichert rechtsextrem“ kann der Verfassungsschutz noch leichter als zuvor mit V-Leuten bis ins Innere der Partei operieren. Verfassungsrechtler Prof. Volker Boehme-Neßler erklärt im NIUS-Interview, was sich rechtlich durch die Hochstufung geändert hat, warum selbst Bundestagsabgeordnete nicht zwingend geschützt sind – und weshalb der Einsatz von V-Männern ein tiefgreifender Grundrechtseingriff ist, der in der Vergangenheit bereits außer Kontrolle geriet.
NIUS: Herr Professor, kann der Verfassungsschutz nun in verschärfter Weise AfD-Mitarbeiter oder sogar Abgeordnete überwachen?
Prof. Volker Boehme-Neßler: Man muss eines klar sagen: Schon bisher war der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel – also Beobachtung, Abhören, Informanten – erlaubt. Das ändert sich nicht. Neu ist allerdings, dass die Begründung künftig einfacher wird. Es muss nicht mehr von einem bloßen Verdacht ausgegangen werden, sondern der Verfassungsschutz darf von einer „gesicherten Rechtsextremität“ sprechen. Damit sinkt der Begründungsaufwand. Es gibt also keine neuen Befugnisse, aber es wird im Einzelfall deutlich leichter, Überwachungsmaßnahmen zu rechtfertigen.
NIUS: Dürfen denn auch AfD-Abgeordnete überwacht werden? Ich hatte gelesen, dass die parlamentarische Immunität dem entgegenstehen könnte.
Boehme-Neßler: Das ist in der Tat ein großes Problem. Klar ist: Im Bundestag selbst greift die Immunität. Dort dürfen Abgeordnete nicht überwacht werden – das ist eindeutig. Die eigentliche Streitfrage unter Juristen ist: Gilt die Immunität auch außerhalb des Parlaments? Ich vertrete die Auffassung, dass die Immunität umfassend wirkt, also auch außerhalb des Parlamentsgebäudes. Die Immunität soll ja genau davor schützen: vor Bespitzelung, vor staatlichem Druck, vor Einflussnahme. Und diese Gefahr endet nicht, sobald ein Parlamentarier das Gebäude verlässt – im Gegenteil, außerhalb ist der Druck vielleicht sogar größer. Deshalb finde ich es folgerichtig, die Immunität als umfassend zu verstehen. Aber: Das ist juristisch nicht unumstritten. Manche Juristen sehen das anders und halten eine Überwachung außerhalb des Parlaments für zulässig.
Unter Thomas Haldenwang (CDU) und Nancy Faeser (SPD) hat sich der Verfassungsschutz radikalisiert.
NIUS: Steht der konkrete Einsatz eines V-Manns eigentlich unter Richtervorbehalt? Muss der Verfassungsschutz dafür eine richterliche Genehmigung einholen – etwa wie bei Hausdurchsuchungen?
Boehme-Neßler: Nein, für den konkreten Einsatz eines V-Manns ist kein Richtervorbehalt vorgesehen. Es gibt andere Maßnahmen – wie etwa Wohnraumüberwachung oder Abhören –, für die ein richterlicher Beschluss notwendig ist, weil sie als besonders schwerwiegend gelten. Aber für den Einsatz von V-Leuten braucht es keine richterliche Genehmigung.
NIUS: Das ist beängstigend.
Boehme-Neßler: Ja, das ist durchaus beängstigend. Natürlich gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Man darf nicht einfach zum Spaß Leute losschicken. Der Einsatz eines V-Manns muss erforderlich und verhältnismäßig sein – es darf also keine andere Maßnahme geben, die genauso wirksam wäre. Und wenn es doch zum Einsatz kommt, kann man im Nachhinein vor Gericht überprüfen lassen, ob der Einsatz rechtmäßig war. Aber das Problem ist natürlich: Was ist, wenn wir auch im Nachhinein nicht erfahren, dass V-Männer im Einsatz waren.
NIUS: Beim NPD-Verbotsverfahren kam das ja auch nur raus, weil die betreffenden Personen vor Gericht nicht lügen durften. Das war meines Wissens die einzige Situation, in der sie sich zu erkennen geben mussten.
Boehme-Neßler: Genau. Ansonsten hätte die NPD das gar nicht bemerkt. Das ist tatsächlich ein Problem. Es gibt ein Buch von Mathias Brodkorb über den Verfassungsschutz, in dem genau solche Skandale thematisiert werden [Titel: Gesinnungspolizei im Rechtsstaat? Der Verfassungsschutz als Erfüllungsgehilfe der Politik. Sechs Fallstudien; Anm. d. Red.]. Er kommt darin zu dem Schluss, dass der Verfassungsschutz besser ganz abgeschafft werden sollte – mit der Begründung, dass er einerseits zu tief in Grundrechte eingreift, andererseits aber nicht effektiv arbeitet, wie beim NSU und der NPD deutlich wurde.
NIUS: Noch eine grundsätzliche Frage: Ist das ganze System des V-Mann-Einsatzes nicht inzwischen außer Kontrolle geraten? Schon beim NSU-Komplex war ja die Rede von mindestens 25 V-Leuten im Umfeld des Trios. Und das NPD-Verbotsverfahren scheiterte letztlich auch, weil der halbe Parteivorstand aus V-Leuten bestand.
Boehme-Neßler: Ja, beim NPD-Verfahren war der V-Mann-Einsatz eindeutig außer Kontrolle geraten – das hat auch das Bundesverfassungsgericht so gesehen. Wenn die Hälfte einer Partei aus V-Leuten besteht, weiß man irgendwann nicht mehr: Was will hier eigentlich die Partei – und was der Staat? Das ist nicht tragbar. Der Einsatz von V-Leuten ist ein ganz heikles Thema, weil er ein heftiger Eingriff in die Grundrechte ist. Deshalb darf er nur unter strengsten Voraussetzungen erfolgen – im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips und wirklich nur im Ausnahmefall. Beim NSU kann ich das im Einzelnen nicht beurteilen, da bin ich nicht tief genug im Thema. Aber es zeigt sich: Selbst 25 V-Leute haben nicht geholfen, die Anschläge zu verhindern. Das heißt zum Beispiel auch, dass V-Leute nicht unbedingt sehr effektiv sind.
NIUS: Vielen Dank für das Gespräch!
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